Jos Stübner:
Kleinstadt, Klasse und Nation
Stadtkonzepte in Böhmen vor und nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel von Rokycany und Cheb/Eger
Zum Titel
"Arbeiterstadt", "bürgerliche Festung", "Trutzburg des Deutschtums", "hussitische Stadt", "rein tschechisches Rokycany", "schwarzes" oder "rotes Eger" – Vorstellungen, Konzepte und Repräsentationen von Städten sind Produkte der historischen Bedingungen, Abbilder des zeitlichen Wandels, zugleich aber auch Ausdruck und Vehikel von politischen Interessen und ökonomischen Hegemonialstellungen.
Anhand der böhmischen Städte Rokycany und Cheb/Eger wird gezeigt, wie von der Jahrhundertwende bis in die Zwischenkriegszeit die Vorstellungen von Gemeinde und Stadt in zwei peripheren Zentren bestimmt und herausgefordert wurden.
Den Rahmen für das Zusammenspiel von lokalen und überlokalen Prozessen bildete zunächst die Habsburgermonarchie, dann der neugegründete Nationalstaat der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Untersucht werden die kommunalpolitische diskursive Sphäre, das Feld des Wohnungs- und Städtebaus sowie die kulturelle Repräsentationspraxis.
Es wird ersichtlich, wie sich das Paradigma von Einheit und Eindeutigkeit in der Phase der Hochmoderne funktional mit Klassenherrschaft und Nationalisierung sowie sozialer und ethnischer Exklusion verband, zugleich aber auch immer prekär und von Widersprüchen geprägt war.
Inhalt
Inhalt
Einleitung
1 Zwei böhmische Städte vor und nach dem Ersten Weltkrieg
2 Stadtgeschichtliche Zugänge und theoretische Überlegungen
3 Begriffe und leitende Fragen zum Stadtkonzept als soziale Repräsentation
4 Forschungsstand zur kleinen Stadt in den böhmischen Ländern
5 Zwei parallele Sonden in der Hochmoderne
6 Aufbau der Arbeit, Methodik und Quellen
I.a Die Gemeindeselbstverwaltung und die städtischen Kollektivkonzepte bis 1918
1 Arenen und Sprecher des Stadtkonzeptes
1.1 Gemeindeautonomie und Gemeindevertretungen vor 1918
1.2 Zugangskontrollen und Partizipationsschranken – Bürgerrecht, Heimatrecht, Wahlrecht
1.3 Gemeindevertretung in Cheb/Eger – Sozialcharakteristik der Mitglieder und ihre Parteiungen
1.4 Gemeindevertretung in Rokycany – Sozialcharakteristik der Mitglieder und ihre Parteiungen
1.5 Begrenzte Öffentlichkeiten
2 Kollektivbegriffe und hierarchische Vorstellungen
2.1 Begriffe der Bürgergemeinde – Cheb/Eger
2.1.1 Bürger, Wähler und Bevölkerung
2.1.2 Ein „Volksgericht“ – Der Fall der Schönerer-Loyalitätserklärung 1902
2.1.3 Die Bürgermeisterwahl 1912 – Mittelständische „Bildungsfeinde“ versus volksferne „Studierte“
2.2 Begriffe der Bürgergemeinde – Rokycany
2.2.1 Občanstvo, obyvatelstvo und obecenstvo
2.2.2 Opposition im Namen der mittelständischen Bürgerschaft
2.2.3 Bürgerstatus und Bürgerprivilegien
2.3 Der Blick auf die Nicht-Bürger
2.3.1 Hierarchisierender Text der Stadt – Subalterne in den Pressedarstellungen
2.3.2 Fürsorgestadt Cheb/Eger
„Volks“-Einrichtungen – Schule, Bibliothek, Stadtbad
Spendensammlungen für Arme, Kranke und Kinder
Ordnung und Erziehung, Bevormundung und Eigensinn
2.3.3 Fürsorgestadt Rokycany
Schulen und Stadtbad – Ausweise des urbanen Fortschritts
Arbeiterperipherie und bürgerliche Kernstadt
Ordnungsanstalt Wärmehalle
Suppenküche und Spendenwesen
2.4 Fazit – Konzeptuelle Anatomie des Kleinstadtkollektivs
3 Stadt, Nation und Staat vor dem Ersten Weltkrieg
3.1 Das Konzept des rein deutschen Eger
3.1.1 Nationale Zugehörigkeit und individuelles Narrativ
3.1.2 Sprache, nationale Reinheit und Gewalt – Volkstag 1897 und Gerichtsstreit 1907-09
3.1.3 Egerer Wirtschaftsnationalismus – Deutscher Mittelstand gegen tschechische Markthändler und Industriearbeiter
3.2 Das Konzept des rein tschechischen Rokycany
3.2.1 Nationale Zugehörigkeit und individuelles Narrativ
3.2.2 Rokycaner Wirtschaftsnationalismus – Die Tschechische Industriestadt
3.3 Stadt, Militär und Monarchie
3.3.1 Die Rokycaner Bürgerschaft und das deutschsprechende Offizierskorps
3.3.2 „Gut österreichisch, aber auch gut deutsch“ – Cheb/Eger und sein Hausregiment
I.b Die Gemeindeselbstverwaltung und die städtischen Kollektivkonzepte in der Umbruchphase 1918-1920
1 Politische Neuordnung der Gemeinden
1.1. Cheb/Eger
1.1.1 Institutionelle Formierungen, nationale Einheitsappelle und Elitenbeharren 1918/1919
1.1.2 Wahlkampf 1919 - „Die schöne Zeit der Privilegienherrschaft ist nun vorbei“
1.1.3 Die neue Gemeindevertretung – Abrechnung mit der alten Staufenstadt und Kontinuitäten
1.1.4 Form- und Öffentlichkeitswandel – „die roten Hechte im bürgerlichen Karpfenteich“
1.2 Rokycany
1.2.1 Institutionelle Formierungen, nationale Einheitsappelle und Elitenbeharren 1918/1919
1.2.2 Wahlkampf 1919 – In Verteidigung der tschechischen Bürgerstadt
1.2.3 Die neue Gemeindevertretung – National integrierendes „celek“ oder alt gegen neu?
1.2.4 Form- und Öffentlichkeitswandel - „er will nicht nach eurer Pfeife tanzen“
1.3 Fazit – Die Vorstellung des Kleinstadtkollektivs im Umbruch
2 Nationale Stadt und neuer Staat
2.1 Rokycany – Die Stadt als Teil von Nation und Republik
2.2 Cheb/Eger – Deutsche Stadt unter tschechoslowakischer Fremdherrschaft?
2.2.1 Die März-Ereignisse 1919 und der Sturz der Kaiser Josef-Statue 1920
I.c Die Gemeindeselbstverwaltung und die städtischen Kollektivkonzepte in den 1920er Jahren
1 Sprecherinnen und Sprecher des Stadtkonzeptes
1.1 Die Mitglieder der Gemeindevertretungen – Kontinuität oder Elitenwechsel?
1.2 Parteiisierung
1.3 Die Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse
2 Kollektivbegriffe und Stadtkonzepte
2.1 „Entpolitisierung der Gemeinden“ statt Klassenherrschaft?
2.2 Kollektivbegriffe – von der Stadtbürger- zur Steuerzahlergemeinde?
2.3 Konkurrierende Konzepte – Cheb/Eger
2.3.1 Stadt des bürgerlichen Gewerbes oder der Arbeiterinteressen?
2.3.2 Schwarzes oder rotes Cheb/Eger
2.4 Konkurrierende Konzepte – Rokycany
2.4.1 Stadt der Eisenwerke – die sozialistische Stadt als kapitalistische Arbeitgeberin
2.4.2 Arbeiterstadt oder bürgerliches Dorf? - Die Rekonstruktion der Eisenwerke 1925 und die Gemeindewahl 1927
2.4.3 Territoriales paternalistisches Gemeindemodell oder entgrenzte „Klassenherrschaft“
2.5 Kontinuität des ordnenden Blicks von oben
2.5.1 Hierarchisierender Text der Stadt – Subalterne in den Pressedarstellungen
2.5.2 Kinder- und Jugendfürsorge – Städte, die „ihres Volkes Blüten so treu behüten“
2.5.3 Spendenwesen
2.6. Fazit – Konzeptuelle Anatomie des Kleinstadtkollektivs nach dem Ersten Weltkrieg
3 Stadt, Nation und Staat in den 1920er Jahren
3.1 Tschechisierungsängste in Cheb/Eger
3.2 Cheb/Eger als Teil des deutschen Städtekollektivs
3.3 Rokycany – Für das Wohl der Gemeinde, der Klasse oder der wehrbereiten Republik?
3.4 Nationalistische Zentralisierung oder Klassenpolitik? – Reaktionen auf die Finanz- und Verwaltungsreformen 1927/28
II Wohnungsnot und Stadtentwicklung
1 Die Wohnungsfrage in Cheb/Eger vor 1918
1.1 Widerstrebende Wahrnehmung – von der Obdachlosenfürsorge zum „Wohnungsnotrummel“
1.2 Die Staatsbeamten in Cheb/Eger und die Wohnungsfrage
1.3 Zwischen genossenschaftlicher Selbsthilfe und öffentlicher Gemeindeaufgabe
1.4 Mieter, Hausbesitzer, Gemeindevertreter – Jenseits von Politik und Klasse?
2 Die Wohnungsfrage in Cheb/Eger nach 1918
2.1 Wahrnehmung des Wohnungsmangels in der Nachkriegszeit als soziale und nationale Not
2.2 Städtische Maßnahmen und Stadtkonzepte
2.3 Genossenschaften als Vehikel von Gruppeninteressen, Empowerment und städtebaulichen Vorstellungen
2.4 Erfassungsversuche – Die bekannte unbekannte Wohnungsnot
2.5 Die alte Infanteriekaserne – Terra incognita und „Fleck im Ehrenschild der Stadt Eger“
3 Die Wohnungsfrage in Rokycany vor 1918
3.1 Eine „gegenwärtige Not“. Allmähliche Wahrnehmung der Wohnungsfrage nach 1900
3.2 Wohnungsbau als Aufgabe der Gemeinde, der Industrie oder als genossenschaftliches Projekt?
3.3 Stadtentwicklung, Stadtraum und die Zugehörigkeit zum Gemeindekollektiv
4 Die Wohnungsfrage in Rokycany nach 1918
4.1 Wahrnehmungen und erste Maßnahmen nach dem Krieg
4.2 Feststellung einer verstetigten Krise und städtisches Handeln
4.3 Kasernenbau und Wagenkolonie – Stadtentwicklung als Partikular- oder Gesamtinteresse
4.4 Nationale Einheit und Klassenrepräsentation – Die österreichischen Eisenbahner
4.5 Klasse in der Wohnform: Einfamilienhäuser oder Mietspaläste?
4.6 Baugenossenschaften – Selbsthilfe für das Gemeinwohl?
5 Fazit
III Repräsentationspraktiken und -orte im Stadtraum – Feiern, Umzüge und Bauten
1 Die Veranstaltungslandschaft in Cheb/Eger vor 1918
1.1 Umkämpfter Raum – Brühlwiese und Sängerhalle
1.2 Die Feiern in Cheb/Eger – Kollision oder Integration?
1.3 „Zahlen beweisen!“ Die Berichterstattung über die lokalen Großveranstaltungen
1.4 Veranstaltungs- und Repräsentationszentren. Das Egerer Schützenhaus und die städtische Turnhalle
1.5 Vordringen der Arbeiterschaft in bürgerliche Räume
2 Die Veranstaltungslandschaft in Cheb/Eger nach 1918
2.1 Räumliche Kontinuität unter neuen Bedingungen
2.2 „Tote Stadt“ und „Frühling unter altersgrauen Mauern!“ – Die Stadt als multiple Projektionsfolie
2.3 Schützenhaus und Turnhallenstreit – Repräsentationspluralismus und räumliches Exklusionsbeharren
2.4 Národní dům und Arbeiterhaus – Fremde Orte in der deutschen Bürgerstadt
3 Die Veranstaltungslandschaft in Rokycany vor 1918
3.1 Die Rokycaner Veranstaltungslandschaft zwischen Einheit und Eigenständigkeit
3.2 Die Sokolovna – Schaffung einer lokalnationalen Identitätsbastion
3.3 Nutzung und Bedeutung der Sokolovna im Verhältnis zur Stadt
3.4 Das Arbeiterhaus – Der „eigene Stand“ in der Bürgerstadt
3.5 Eine Stadt – zwei Repräsentationszentren
4 Die Veranstaltungslandschaft in Rokycany nach 1918
4.1 Von der nationalen Harmonie zum Nachkriegspluralismus
4.2 Tschechoslowakische Feiern – Als Gemeinde geeint, nach Klassen getrennt für Staat und Nation
4.3 Konkurrierende Feiern und hegemoniale Ansprüche
4.4 „Der größte Saal in Rokycany“ – Arbeiterhaus versus Sokolovna
5 Fazit
Schlussbetrachtung
Abkürzungen
Anhang
Mitglieder der Gemeindevertretungen
Cheb/Eger
Rokycany
Quellen und Literatur